Lukas Habicht
Das Geheimnis der Kristallwächter-Teil 1
Kapitel 1
gerne finstere Wesen aller Art, die keine Chance ungenutzt lassen wollten, selbst einer Hexe zu schaden. Dunkle Gedanken waren meist die Vorboten und die beste Nährspeise böser Kräfte. Aber mit einem leckeren Steintee und einem Pfeifchen am Kamin konnte man fast alles überstehen.
Tief zog die alte Frau, sie erinnerte in ihrem Äußeren an die ältere Schwester von Indiana Jones, den duftenden Rauch ihres selbst gemischten Tabaks ein und nippte genüsslich an dem aromatischen Gebräu in ihrer Lieblingstasse.
Ein schwerer Donner rollte über das kleine, windschiefe Haus hinweg, ehe der nächste helle Blitz kurz darauf das Zimmer erhellte. Sie seufzte tief und lehnte sich in ihrem abgewetzten und urgemütlichen Ohrensessel zurück. „Ah, Troll mein großer Freund. Du erlaubst?“ Mit diesen Worten hob sie ihre bunt bestrumpften Füße hoch und bettete sie auf dem Fellhaufen, der ihr am nächsten lag.
Der Fellhaufen hob seinen zottligen Kopf und schaute die alte Frau treuherzig an. Dann gähnte er herzhaft, zeigte kurz eine lange Reihe weißer und äußerst gefährlich wirkender Zähne und legte den Kopf wieder auf seine Pfoten.
Erneut nippte Mai an ihrer Tasse und betrachtete zufrieden die riesigen, schlafenden Hunde, die fast vollständig den bunten Teppich zu ihren Füßen bedeckten. So mutig und tapfer diese Giganten auch waren, bei Regen blieben sie lieber daheim und versuchten, den besten Platz vor dem wärmenden Feuer zu ergattern.
Es donnerte ohrenbetäubend und im gleichen Moment entlud sich ein weiterer Blitz. Das Gewitter war jetzt direkt über dem Haus und der Regen prasselte gegen die Fenster. In dem wenigen Licht sah sie die bunten Glasamulette in ihrem Garten funkeln, die im Wind hin und her gewirbelt wurden. Die freundliche Magie, die von ihnen mit jeder Windböe um das Haus getragen wurde, alles bewachte und beschützte, verursachte wie immer ein warmes Kribbeln in Mais Zehen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung und erkannte gerade noch einen kleinen Schatten, der durch den Garten auf die Haustür zusteuerte.
Im gleichen Moment hob Troll den Kopf und knurrte leise.
Mai runzelte die Stirn. Sie erwartete keinen Besuch, zumal es ungewöhnlich war, sich bei so einem Sturm vor die Tür zu wagen.
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Da aber Troll bis auf das leise Grollen ruhig blieb, war es vielleicht nur ein Nachbar der Hilfe brauchte.
Der Türklopfer wurde leise knarrend angehoben. Das Metall knallte hart auf die Haustür.
Wolf, Knurr und Kralle schreckten aus ihren Hundeträumen auf. Es klopfte erneut und die drei schlugen endlich an. Troll dagegen blieb weiterhin ruhig und wartete geduldig, bis seine Herrin sich aus den Tiefen ihres Sessels befreit hatte.
Als der Türklopfer erneut gegen das Holz schlug, kam sie endlich auf die Beine. „Ich komme ja schon“, murmelte sie unwirsch und schlitterte auf ihren dicken Strümpfen zur Haustür. Sie wartete kurz, bis die Hunde direkt hinter ihr Position bezogen hatten, dann öffnete sie schwungvoll die Tür. Mai musste sich vor niemandem verstecken. Niemals und zu keiner Zeit. Aber sie liebte es, ihre Besucher mit den riesigen Hunden auf Schulterhöhe im Rücken zu empfangen. Zeitgleich blitzte und donnerte es, als wenn es kein Morgen gäbe und das Flurlicht erlosch. Das kam unerwartet, aber ihr Auftritt war in dem gespenstischen Licht bühnenreif. Sie musste allerdings nach unten blicken, um ihren Besucher zu entdecken. Vor dem sturmgepeitschten Garten entdeckte sie die kleine Gestalt. Diese hielt erschrocken die Luft an, sprang mit einem gellenden Schrei zurück und stolperte rückwärts die Stufen der Veranda hinunter.
Mai fluchte heftig und hastete dem Besucher hinterher. In einer riesigen Pfütze hockte ein Kind und wimmerte leise. Mit wenigen Schritten war sie bei ihm und hob es vorsichtig auf ihren Arm. „So unvernünftig. Bei diesem Wetter“, murmelte sie. Schnell trug sie das Kind ins Haus. Ihre selbst gestrickten Socken hatten mittlerweile die Form von wabbeligen Schwimmflossen angenommen und nur mit Mühe watschelte sie zum Kamin. Das Kind zitterte hefig, ließ sich aber vor dem wärmenden Feuer absetzen. Als sie behutsam die nasse Kapuze zurückschob und ihm die Haare aus dem Gesicht strich, zog sie scharf die Luft ein. „Mara!“, stieß sie erstaunt hervor. „Was tust du hier? Ganz allein?“ Die Kleine lächelte zaghaft und versuchte ihre Zähne unter Kontrolle zu bringen, die hart aufeinanderschlugen. Dann brach es mit klappernden Zähnen aus ihr heraus: „Oma, ich sollte zu dir kommen, wenn etwas schiefgeht. Mama und Papa haben gesagt, ich soll im Auto warten. Dann sind sie in den Wald gegangen. Ich habe so lange gewartet!“ Maras Unterlippe begann zu zittern und das Kind fiel schluchzend in Mais Arme. „Ich glaube, es ist etwas schiefgegangen. Sie sind nicht mehr zurückgekommen!“
Vor Mais Haus stand in dem tosenden Unwetter ein riesiger, knorriger Baum mitten auf der Fahrbahn. Das Wesen hatte bewusst eine Tarnung gewählt, die in der Menschenwelt anscheinend überall zu finden war. In der Annahme, besonders listig zu sein, hatte der knorrige Kerl einen Gartenstuhl nachempfunden, der aus der Rinde zu wachsen schien. Dass Bäume mit Stühlen nicht auf Straßen wuchsen, hatte ihm keiner gesagt. Allein der Umstand, dass bei diesem Wetter niemand draußen war, verhinderte, dass er entdeckt wurde. Als das Kind und die alte Frau im Haus verschwunden waren, verharrte er noch einen Moment unschlüssig in seiner unbequemen Position. Er spürte die Anwesenheit der mächtigen Wächterwesen rund um das Haus der Hexe. Aber er wusste auch, dass es einen Auftrag zu erfüllen gab. Er durfte nicht ohne dieses Mädchen zurückkommen.
Es war fast zu leicht gewesen die dummen Eltern einzufangen. Sie hatten sich einfach für ihr Junges geopfert. Wie Vogeleltern, die vorgaben verletzt zu sein, um einen Fuchs von ihrem Nest wegzulocken. Aber ein kluger Fuchs wusste immer, wo er die Eier finden würde. Menschen waren noch leichter zu durchschauen und zu manipulieren. Zwei Kristallwächter auf einmal. Was für ein Triumph. Aber das Balg hatte es tatsächlich geschafft zu entkommen. Der Baum spürte heiße Wut in sich aufsteigen. Welche Ungeheuerlichkeit, von einem hilflosen Menschenkind übertölpelt worden zu sein. Der Gestaltwandler, nichts anderes war er nämlich, grinste hämisch, sammelte sich kurz und die einzelnen Teile seiner Baumattrappe fielen in sich zusammen. Sofort breitete sich ein ekelerregender Gestank nach Verwesung aus. Der Wandler wälzte sich als schwarze Giftwolke auf das Gartentor der alten Hexe zu, verharrte vor dem Hindernis und zog witternd die Luft ein. Der schwache Duft des Mädchens hing trotz des starken Windes immer noch in der Luft. Neben seiner absoluten Skrupellosigkeit besaß der Wandler ein ausgezeichnetes Riechorgan, ähnlich wie bei Haien. Nur, dass jeder Hai sich von ihm eine Scheibe hätte abschneiden können. Das kleinste Duftmolekül reichte aus, um seine Opfer über weite Entfernungen wittern zu können.
Schließlich kroch er wie eine riesige, schwarze Schlange über den Zaun und schlängelte siegessicher auf den Eingang des Hauses zu. All das leere Gerede um die ach so gefährliche Hexe mit ihren Zaubersprüchen und falschem Hokuspokus.
Das Haus schien den Atem anzuhalten. Das Gewitter tobte weiter am nachtschwarzen, wolkenverhangenen Himmel und die bunten Glasamulette drehten sich hurtig im Wind.
Lächerlich! Als ob mich diese Dinger aufhalten könnten, dachte er, behielt die Amulette aber vorsichtshalber im Blick. Ansonsten hätte er vielleicht den sanften Schimmer bemerkt, der plötzlich über die Haustür zog, sich ausdehnte und bald das gesamte Haus umspielte. Dann floss er langsam über die Verandastufen und breitete sich als weiche, hauchzarte Wolke weiter aus.
Der Gestaltwandler erreichte triumphierend die unterste Stufe der hölzernen Veranda, die Schutzamulette weiterhin fest im Blick. Was für eine Nacht – zwei Amulettträger und ihr ekelhafter Spross. Ach was, ich werde die alte Schachtel einfach mitnehmen. Bestimmt sind die anderen fürchterlich neidisch. „Mist …!“
Das Haus atmete aus. Die Haustür schien zu explodieren und im lautesten Donnergrollen, den das Gewitter bisher zustande gebracht hatte, wurde das Wesen einfach von den Füßen gefegt, das heißt, wenn es welche gehabt hätte. Mais Hauswächter machten sich nicht einmal die Mühe, vollständig auszurücken. Einige Kobolde mit ihren geflügelten Reittieren und die wilden, aber gerechten Hexen reichten aus, um den Wandler in Sekunden zu vernichten.
Das Gewitter zog weiter und der letzte Blitz erhellte einen öligen Fleck in der großen Pfütze, in die Mara zuvor gefallen war.
Als am nächsten Morgen die Wolken aufrissen und die Sonne sich wieder hervortraute, war nichts mehr von dem nächtlichen Spektakel zu sehen.
Mai hatte sehr wohl den untrüglichen Verwesungsgeruch in ihrem Garten wahrgenommen. Sie fragte sich, warum ein Wand-ler Jagd auf ein achtjähriges Mädchen und ihre Eltern gemacht hatte. Ihre Enkeltochter hatte mehr Glück als Verstand gehabt. Warum hatte ihre Tochter sie nicht über die Gefahr informiert?